Mittwoch, 15. August 2012

Unverfroren




Wieder mal der Solaris-Effekt in meinem Leben: Erst denke ich, es sind zwei Penner, dann bemerke ich die Farbflecken auf ihren Hosen. Zwei Arbeiter haben Feierabend. Der mit der Zipfelmütze hockt auf dem Fahrradständer, streckt die Hand aus und lässt sich vom anderen Geld geben. Danach rappelt er sich auf und geht in den vietnamesischen Edeka-Laden. Ich überlege, ob ich mein Fahrrad neben das Fahrrad im Ständer stellen soll oder neben den Ständer. Der dem anderen das Geld gegeben hat, setzt sich an die Stelle auf dem Fahrradständer, wo der andere hockte. Es ist noch genug Platz für mein Fahrrad, aber wenn ich es in den Ständer stelle, ist nicht mehr genug Platz zum Hinhocken für den mit der Zipfelmütze. Ich stelle mein Fahrrad in den Ständer, schließe es ab. Der mit der Zipfelmütze kommt zurück und zeigt seinem Kollegen schon von weitem die zwei Flaschen Warsteiner, die er gekauft hat. Als er mein Fahrrad sieht im Ständer, wird seine eben noch strahlende Miene leidend. Ich beruhige ihn: Ich brauche nicht lange. Mein Fahrrad ist gleich wieder weg. – Da ich nur zwei Sachen kaufe und an der Kasse gleich dran komme, bin ich wie versprochen schnell wieder zurück. Die beiden Männer genießen ihr Bier. Der mit der Zipfelmütze im Stehen, der andere auf dem Fahrradständer sitzend. Noch zwölf Jahre bis zur Rente, sagt der Sitzende zu mir gewandt, während ich mein Fahrrad aufschließe, und dann deutet er auf seinen Kollegen und sagt: Er hat nur noch fünf. – Worauf der mit der Zipfelmütze sagt: Aber ich mache nur noch zwei. Mehr brauche ich nicht. – Die beiden Männer haben den gleichen Akzent. Östlicher Mittelmeerraum, vielleicht Triest. Ich wünsche ihnen Alles Gute und fahre los. Das Hinterrad fühlt sich komisch an. Das Hinterrad fühlt sich sehr komisch an. Ich halte an und sehe: der Reifen ist platt. Ich schiebe das Fahrrad zurück zu den beiden Männern. Der mit der Zipfelmütze macht eine Bemerkung zum anderen mit Blick zu mir. Ein kleiner Junge steht vor dem Eingang des Supermarkts und ist gespannt, was ich jetzt mache. Er hat bestimmt gesehen, wie sie mir die Luft aus dem Reifen gelassen haben. Ich sage zu den Männern: Ich war freundlich zu euch. Warum habt ihr das gemacht? – Sie fragen nicht: Was gemacht? Sie beteuern sofort, es nicht gemacht zu haben. Sie hören gar nicht mehr auf zu beteuern, es nicht gemacht zu haben, während ich meine Luftpumpe aus dem Rucksack nehme, um den Reifen aufzupumpen. Die Ventilschraube ist um mindestens drei Umdrehungen aufgedreht. Der mit der Zipfelmütze meint, der Reifen müsse schon vorher platt gewesen sein, immer wieder sagt er das. Und am besten ist, als er erklärt, wenn er das gemacht hätte, dann hätte er aus beiden Reifen die Luft raus gelassen. Ich pumpe und sage nichts. Und je länger ich schweige, desto besser ist es. Ich denke, was für ehrlose Kerle das sind, die so etwas machen und hinterher verstecken sie sich wie kleine Jungs hinter Unschuldsbeteuerungen. Ich bemerke aber auch, wie selbstverständlich ihnen ihr unverfrorenes Verhalten ist. Und das ist der Grund, weshalb ich schweige und weshalb das gut ist. Ich habe keinen Groll gegen sie. Mir ist auch schon klar, dass es um nicht mehr als einen platt gemachten Fahrradreifen geht. Ich wundere mich nur, wie lange es dauert, bis der Reifen aufgepumpt ist. Und dann denke ich, dass ich gerade wieder einen dieser Solaris-Momente in meinem Leben habe. Aber heute ist es nicht lästig oder albern. Denn nun weiß ich, wie ich mich in einem ganz anderen, aber sehr ähnlichen Fall verhalten werde, und dass es gar nicht anders sein kann als so.