Sonntag, 14. Oktober 2012

Rücksichtnahme


Vielleicht ist der alte Mann mit dem Knabengesicht auch deshalb so unnatürlich breitbeinig gegangen, weil er eine Windel getragen hat, und so weh hat es getan, weil die Windel scheuerte. Er nur noch Haut und Knochen, sein ganzer Körper in Auflösung. Aber um Besorgungen zu machen in der Kaiser-Wilhelm-Passage, reichte es noch.

In guten Zeiten hatte ich ihn ein paarmal in Begleitung seiner Frau gesehen. Zu erkennen, dass es seine Frau war, alleine schon daran, wie stolz er gegangen ist an ihrer Seite. Wo war die Frau jetzt? Vor ihm gestorben? Noch am Leben, aber noch elender dran als er? Oder hatte sie ihn einkaufen geschickt, damit er einmal raus kommt und nicht immer nur vor dem ausgeschalteten Fernsehgerät sitzt und brütet, brütet, brütet.

Obwohl wir uns über einen Zeitraum von vier, fünf Jahren regelmäßig begegnet sind, im Hallenbad, auf der Straße, beim Einkaufen, ist es nie dazu gekommen, dass wir uns gegrüßt haben. Ich habe es ein paarmal versucht und ihm zugenickt. Aber da hat er ein verschlossenes Gesicht gemacht und sich abgewendet. Er muss in mir etwas gesehen haben, das er ablehnte. Er eine Gestalt wie mit dem Lineal gezeichnet: aufrecht und akkurat. Ich auch aufrecht, doch überhaupt nicht akkurat. Dafür deutlich jünger. Kann sein, dass es nur das war: dass es ihn geärgert hat, dass er vor mir sterben wird. Als es dann so weit war, hätte ich mich am liebsten versteckt vor ihm die letzten beiden Male, da sich unsere Wege gekreuzt haben. Weil ich es ihm lieber erspart hätte, mir zu begegnen in seinem erbärmlichen Zustand. Aber das ist mir erst hinterher eingefallen, dass ich mich vor ihm hätte verstecken können, um Rücksicht auf ihn zu nehmen.