Dienstag, 2. Oktober 2012

Schmähung

Grün, du Arschf***er! ruft ein ein älterer Mann mit Hängebauch und schlohweißen schulterlangen Haaren einem Fahrradfahrer hinterher, der rechts abgebogen ist mit Karacho vor der Nase des Mannes, der mit seiner Begleiterin den Fußgängerüberweg überquert hat. Und da sehe ich auch schon den gescholtenen Radfahrer, daran zu erkennen, wie er abbremst und sich umdreht nach dem Mann, der ihn einen Arschf***er genannt hat. Einen Moment lang sieht es so aus, als würde er umkehren und den Mann ansprechen wegen der Arschf***er-Beschimpfung, die er als Beleidigung empfinden muss, ganz gleich ob er passiv oder aktiv praktizierender Arschf***er ist oder nicht. Hätte der Radfahrer kehrt gemacht, wäre ich ihm gefolgt zu dem Mann mit dem Hängebauch. Doch aus den gleichen Gründen, aus denen ich mir nicht vorstellen kann, was der Radfahrer zu dem Mann sagt, wenn er ihn zur Rede stellt, kommt es nicht zum Dialog zwischen den beiden, macht der Radfahrer nicht kehrt und fährt weiter. Langer Kerl mit schon grotesk hohem Fahrradrahmen. So dumm wie lang, denke ich jedesmal, wenn ich einen wie ihn sehe auf seinem großen Fahrrad. Was natürlich ein unhaltbares Vorurteil ist und außerdem vorbeizielt an dem, was passiert, wenn so ein langer Kerl auf seinem Fahrrad um die Ecke brettert, ohne Rücksicht zu nehmen auf Fußgänger, andererseits allerdings auch, ohne sie zu gefährden, weil er von seiner hohen Warte alles überblickt und nur deshalb glaubt, sich über die Verkehrsregeln hinwegsetzen zu können. Da steht er drüber. Weshalb er es normalerweise nicht mitkriegt, wenn einem Fußgänger seinetwegen vor Schreck die Einkaufstüte aus der Hand fällt und empörte Zurufe und Verwünschungen erreichen ihn gleich gar nicht in seiner einsamen Höhe. Wenn sie nicht so schockierend anschaulich und überdies in Straßenverkehrskonflikten so ungewöhnlich sind wie der Gebrauch von Arschf***er in diesem Fall. Insofern hat der Mann auf dem Zebrastreifen alles richtig gemacht. Obwohl ich zugeben muss, dass ich es gut verstanden hätte, wenn der lange Radfahrer den Mann mit dem Hängebauch und den schlohweißen Haaren zur Rede gestellt hätte. Doch was hätte er zu ihm sagen sollen? Nur weil ich die Straßenverkehrsordnung missachte und mich rücksichtslos gegenüber Ihnen verhalte, haben Sie noch lange nicht das Recht, mich einen Arschf***er zu nennen, und zwar ungeachtet dessen, ob ich einer bin oder nicht. Nein, das wusste der Radfahrer von vornherein, dass er so mit einem Mann nicht würde reden können, der ihn einen Arschf***er nennt. Also hat er es gelassen und die Schmähung hat noch eine ganze Weile an ihm genagt. Und auch insofern hat der Mann auf dem Zebrastreifen im Grunde genommen alles richtig gemacht.